Schubladendenken

Immer wieder stellen wir fest, dass wir in einer Sackgasse gelandet sind. Mit einer seltenen Krankheit passt man einfach nicht ins System.

 

Johanna war und ist bei diversen Ärzten in Behandlung, aber eine/r nach der/m anderen stößt an ihre/seine Grenzen. Dann geht es nicht mehr weiter, es gibt eine Überweisung zum nächsten Facharzt, der aber auch nur eine isolierte Facette des Gesamtproblems sehen und behandeln kann. Ich wünsche mir so sehr, dass jemand sich für zuständig erklärt, dass es ein interdisziplinäres Teamwork der Therapeuten und Ärzte gäbe, bei dem sich die Beteiligten untereinander austauschen und miteinander eine Behandlungsstrategie entwickeln. Aber das scheint in unserem Gesundheitssystem nicht vorgesehen zu sein. 

 

Bislang schaut jede Ärztin und jeder Arzt auf ihr/sein Fachgebiet und stößt bei so einer komplexen Erkrankung wie Johanna sie hat logischerweise an einen Punkt, wo das eigene Expertenwissen zu Ende ist. Johannas Krankheitsbild scheint so außergewöhnlich zu sein, dass Mediziner ratlos und kopfschüttelnd davorstehen. 

 

Ein Psychiater oder Psychotherapeut kennt sich mit seelischen Leiden aus, aber im Zweifelsfall auch nur mit einigen besonders gut. Hier im ländlichen Raum finden wir keine, die Erfahrung in der Therapie von Dissoziativen Störungen hat. Das wäre schon hilfreich, aber momentan würde ich es schon sehr begrüßen, wenn es überhaupt eine Psychotherapeutin gäbe, die Johanna auf ihrem Weg begleitet. Eine Dauerbegleitung ist aber aus Sicht der Krankenkasse nicht vorgesehen. Wenn Therapie nicht nach einer bestimmten Zeit „Wirkung“ zeigt, wenn sich der seelische Zustand nicht verbessert, dann werden keine weiteren Therapiestunden bewilligt, weil es ja eh nichts hilft. Dass aber ohne regelmäßige therapeutische Begleitung der Weg steil nach unten führt, das wird nicht gesehen. 

 

Praktische Ärzte können z. B. nur sehr begrenzt Physiotherapie und Krankengymnastik verordnen, sie haben ein Budget. Eine „Langfristverordnung“ wird nur bei ganz bestimmten chronischen Krankheiten bewilligt. Eine dissoziative Bewegungsstörung gehört nicht dazu. Auch wenn die Auswirkungen wahrscheinlich haargenau die gleichen sind wie bei einer Querschnittslähmung als Unfallfolge, wird die Therapie nicht gleichermaßen bewilligt. Der Spitzfuß ist ja „nur psychisch“. Ja, möglichweise ist der Körper eines Tages wieder bereit, zu funktionieren, wenn die Seele Ruhe gefunden hat und die Traumata gelöst wurden. Aber bis dahin sind die Beine gelähmt, die Füße verformt und die Schmerzen die gleichen wie beim Unfallopfer.

 

Wir erleben immer wieder, dass Therapeuten aus nicht-ärztlichen Heilberufen sehr viel kreativer sind als ihre studierten KollegInnen. Johannas Physiotherapeutin ist so eine engagierte, ganzheitlich denkende, einfühlsame und erfahrene Fachfrau – ein Glück, dass wir nach fast einem Jahr der Suche endlich eine gefunden haben, die es sich zutraut, eine psychisch Kranke mit Bewegungsstörungen zu behandeln. Für sie ist es völlig offensichtlich, dass es viel zu kurz gedacht ist, all die Symptome als „rein psychisch“ abzutun. Eine Diagnostik, die den ganzen Menschen sieht, könnte vielleicht ganz andere Ergebnisse hervorbringen.

Untersuchungen in unbekannten Facharztpraxen sind für Menschen mit PTBS, mit Ängsten, Panikattacken und Dissoziativen Störungen eine fast nicht zu bewältigende Herausforderung. Die letzten vier Arztbesuche, die Johanna in Angriff nahm, endeten bevor sie anfingen: beim Betreten der Praxis oder spätestens beim Warten auf den Arzt begann ein Krampfanfall, der jedes Gespräch, jede Untersuchung unmöglich machte. Von den Schmerzen, der Scham, den Folgeerscheinungen mal ganz abgesehen, ist das ein ziemlich sinnloses Unterfangen. Und trotzdem muss sie sich dem immer wieder stellen. Fachärzte machen keine Hausbesuche. Den Bewegungsapparat kann nur der Orthopäde untersuchen, die Funktion der Nervenbahnen nur der Neurologe, die Neurodermitis nur der Hautarzt. Jeder sieht einen Mini-Ausschnitt des Gesamtproblems und irgendwie kann man sich an 5 Fingern abzählen, dass dabei keine ganzheitliche Lösung herauskommen kann. Schublade auf, nichts darin gefunden, Schublade zu, nächste Schublade.

 

Es ist zum Verzweifeln. Johanna hat überlegt, sich in einer neurologischen Fachklinik untersuchen zu lassen. Beim Telefonat mit der Klinik war ich erstmal angenehm überrascht, dass es keine Einwände dagegen gab, dass ich Johanna ins Krankenhaus begleiten würde, um dort die Pflege sicherzustellen. Allerdings gibt es auch dort angeblich keine Möglichkeit, ein MRT unter Narkose zu machen. Warum überhaupt MRT unter Narkose? Der Versuch, ein MRT mit einer normalen Sedierung zu machen, ging komplett daneben. Es reicht auch keine Überweisung vom Hausarzt, sondern sie muss vom niedergelassenen Neurologen kommen. Wo wir wieder bei der Problematik des Arztbesuches wären – siehe oben!

 

Bis heute wurden die rätselhaften Symptome noch nie untersucht und abgeklärt und es kommen immer mehr körperliche Symptome dazu. Wenn die übliche Form der Diagnostik nicht funktioniert, wird nicht nach Alternativen gesucht, sondern kapituliert. Es scheint also gerade keine Möglichkeit zu geben, überhaupt einmal zu untersuchen, ob es nicht doch körperliche Ursachen für Johannas Zustand gibt. Dazu ist sie zu krank. Ha!

 

Das erinnert mich an die Oberärztin einer psychosomatischen Fachklinik, die einen sehr guten Ruf für die Behandlung dissoziativer Erkrankungen hat. Johanna wollte sich dort unter anderem wegen ihrer dissoziativen Bewegungsstörung, ihres dissoziativen Mutismus und ihrer sozialen Phobie behandeln lassen. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass sie nicht laufen und nicht sprechen und nicht an Gruppentherapien teilnehmen kann und deswegen nicht therapiefähig sei. Hm.

 

Menschen mit seltenen und ungewöhnlichen Krankheiten fallen durchs Raster. Vor allem, wenn nicht zu erwarten ist, dass es ein Medikament dagegen geben könnte, mit dem Geld zu verdienen ist. So ein Krankheitsbild wie Johanna es hat, erfordert vom Arzt oder Therapeuten Geduld, genaues Hinsehen und Zuhören, Erfahrung und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, Auszuprobieren, Raum zu geben. All diese Punkte sind in der Gebührenordnung für Ärzte nicht zu finden. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass Ärzte nicht umsonst und auch nicht kostenlos arbeiten wollen. Hier liegt ganz offensichtlich der Fehler im Gesundheitssystem. Ganzheitliche Behandler passen da genauso wenig hinein wie so komplizierte Kranke.  

 

Aber – wie Johanna schon mal geschrieben hat – bin ich einfach eine unverbesserliche Optimistin und ich glaube an Wunder. Wenn sich das Wunder ein bisschen beeilen könnte, wäre ich allerdings mehr als dankbar!

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