Psychohygiene

Für diesen Artikel konnte ich absolut keinen passenden Titel finden. Schließlich bin ich auf das Wort Psychohygiene gestoßen und das trifft es eigentlich ziemlich genau.

 

Definition: "Zur Psychohygiene zählen alle Maßnahmen, die dem Schutz und dem Erhalt der psychischen Gesundheit dienen. Dazu gehören Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen, die Personen unterstützen mit Belastungen (z.B.Stress) umzugehen, sowie tägliche „Pflegemaßnahmen“ für die Seele." Quelle Gesundheit.gv

 

Mir geht es psychisch sehr viel besser und ich möchte gerne beschreiben, wie mein Weg dahin war. 

Das Englische Wort "REST" ist mit Dominiosteinen buchstabiert


Seit meiner ersten schweren Krise und meinem ersten Aufenthalt in der Psychiatrie sind 10 Jahre vergangen. Seitdem habe ich viel durchgemacht und es hat sich einiges verändert – in letzter Zeit zum Positiven. 

 

Als ich 2015 anfing diesen Blog zu schreiben, war ich schwer psychisch krank und bis 2018 wurde es immer schlimmer. Die Symptome, die ich hatte, habe ich auf meiner Webseite ja ausführlich beschrieben. Der Tiefpunkt war erreicht, als meine damalige Psychotherapeutin meine Behandlung aufgab und ich nach ca. 80 Absagen von Kliniken überhaupt niemanden mehr hatte, der*die mich begleitet hätte. Zusätzlich zu den ganzen psychischen Symptomen kam 2016 noch körperliche Probleme: Ich konnte nicht mehr laufen und bekam verschiedenste neurologische Symptome. Auch darum kümmerte sich kein*e Fachärzt*in. 

 

Was zuerst wie eine Katastrophe aussah, stellte sich hinterher aber als gar nicht so schlecht heraus. Ich war zu Hause in meinem Bett durch die Ängste und Dissoziationen gefangen, außerdem gelähmt, stumm und generell in einem ziemlich miserablen Zustand. Allerdings verlangte auch niemand mehr von mir, meine Komfortzone zu verlassen und über meine Grenzen zu gehen. Ehrlich gesagt war meine Komfortzone wirklich winzig und ich war so empfindlich wie ein rohes Ei. 

 

So führte ich ein unfreiwilliges Eremitenleben. Außer meiner Mutter sah ich kaum andere Menschen und verbrachte die meiste Zeit mit mir allein. Mit der Zeit wurden die Panikattacken, Dissoziativen Zustände und Persönlichkeitswechsel immer weniger. Es gab ja auch nur wenig, was mich triggern konnte. Es war furchtbar langweilig und frustrierend. Ohne aktiv irgendwas dafür zu tun, konnte ich mich offensichtlich immer mehr entspannen. 

 

Meine Mutter war immer für mich da, hat mir eine Schulter zum Anlehnen gegeben, hat nicht versucht, mich mit leeren Sprüchen aufzumuntern, hat mir Raum gegeben für alle meine Emotionen und auch die unangenehmen Facetten angenommen. Wenn ich geweint hab, hat sie mich gehalten und mir das Gefühl gegeben, dass auch das da sein darf. Ich durfte einfach so sein, wie ich bin und hatte absolute Entspannung, Ruhe und keinerlei Druck von außen.

Aus meiner Perspektive sieht man meine Beine und die Tür vom Krankenwagen
Auf dem Weg zum Zahnarzt im Liegendtransport

Dass schon länger ein innerer Prozess am Laufen war, war mir lange Zeit gar nicht so bewusst. Das erste Mal, dass mir das wie Schuppen von den Augen gefallen ist, war bei einem Zahnarzttermin im September 2021. Weil ich ja gelähmt bin und keinen Rollstuhl habe (aber das ist eine andere Geschichte), musste ich mit einem Krankenwagen im Liegendtransport dorthin gefahren werden. Dabei wurde ich von fremden Männern angefasst und um mich herum war in einem kleinen Raum viel los. Vor ein paar Jahren hätte mich das unmittelbar in einen dissoziativen Krampfanfall katapultiert. Aber es passierte nichts, ich war die ganze Zeit ziemlich entspannt und fühlte mich nicht unwohl. Als wir nach Hause kamen, waren meine Mutter und ich erstmal total verblüfft und freudig. Dass ich seit 2019 keine Dissoziativen Symptome und Panikattacken mehr gehabt hatte, hatten wir darauf zurückgeführt, dass es einfach keine Auslöser gegeben hatte. Nun war aber klar, dass ich auch in durchaus stressigen Situationen klar und ruhig bleiben konnte. Es kamen auch noch ein paar weitere Situationen wie Handwerker, Besuche usw. und auch da blieb ich entspannt und symptomfrei. Also hatte sich wirklich etwas grundlegend bei mir verändert. 

 

Ich kann nicht sagen, wie es dazu kam, dass meine schweren dissoziativen Zustände, Switches und Angststörungen komplett verschwunden sind. Ich kann nur sagen, dass sie wirklich da waren und jetzt nicht mehr. Ich habe heute keinerlei Symptome der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung mehr. Meine Vergangenheit belastet mich überhaupt nicht, ich kann über vieles reden, was vor einiger Zeit völlig tabu war. Mittlerweile bezweifle ich, dass wirklich alle Behauptungen und Vermutungen meiner damaligen Behandler*innen bezüglich der Ursachen meiner psychischen Erkrankung zutreffen.

 

Auch im Umgang mit mir selbst hat sich vieles verändert. Früher habe ich immer viel Selbsthass empfunden. Meinen Körper habe ich verabscheut. Ich habe mich wertlos gefühlt und mich nicht selbst geachtet. Ich war mir selber mein größter Feind. Wenn ich das Gefühl hatte etwas „falsches“ gemacht zu haben, hatte ich immer den Druck mich selbst zu bestrafen. Die kleinste Kritik an mir machte das nur noch schlimmer. Andererseits hatte ich auch null Toleranz für die Fehler anderer Leute, hauptsächlich traf das natürlich meine Mutter. Wenn sie bei meiner Versorgung irgendetwas nicht „richtig“ machte – und am schlimmsten war das natürlich, wenn sie mir unabsichtlich wehtat - dann wurde ich wütend und aggressiv. Es gab wirklich schlimme Szenen. Danach hatte ich jedes Mal große Schuldgefühle und wieder den inneren Zwang mich zu bestrafen. Also ein Teufelskreis.

 

Situationen, in denen ich mich nicht verstanden fühlte oder wo es zu einem Kontrollverlust kam, setzten mich so unter Stress, dass mein rationales Denken aussetzte und ich die Impulskontrolle verlor.

Ein fragiles Herz wird von Händen gehalten. Die Hände sind mit Worten beschriftet, die Selbstmitgefühl ausdrücken.

Auch das wurde im Laufe der Zeit immer besser. Nach und nach wurde ich immer weicher und mir selbst gegenüber verständnisvoller. Ich denke, ich habe wirklich ein gesundes Selbstmitgefühl entwickelt. Einige meiner Verhaltensweisen sind immer noch schwierig - für mich und andere, aber ich kann meine Impulse jetzt wesentlich besser kontrollieren. Ich sehe mich als ziemlich reflektiert, ich kann mittlerweile gut mit meiner Mutter über unser Zusammenleben und über meine inneren Konflikte reden. Ich weiß, wann es problematisch wird und arbeite daran, besser damit umzugehen. Gleichzeitig habe ich aber auch Verständnis und Akzeptanz für mich und meine Emotionen. Ich empfinde deshalb nicht mehr diesen heftigen Selbsthass und habe auch demzufolge schon seit langer Zeit nicht mehr den Druck mich selbst bestrafen zu müssen. 

 

 


Wenn ich wegen meiner desolaten Situation traurig, bedrückt, verzweifelt, frustriert, genervt oder sonstwie missgestimmt bin, dann sehe ich das als eine normale menschliche Reaktion und nicht als Krankheit. 

 

Meine Wahrnehmung meines eigenen Körpers hat sich grundlegend gewandelt. Ich komme damit klar, dass ich Übergewicht habe und dass sich mein Körper wegen meiner körperlichen Behinderung verformt hat. Ich kann heute in den Spiegel schauen, ohne mich abstoßend zu finden und ich gehe achtsam mit meinem Körper um. Ich kenne meine Bedürfnisse und achte darauf. Das gilt auch für das Essen: nach jahrelangen schweren Essstörungen in alle Richtungen ist das Essen heute kein Thema, das mich ständig beschäftigt.

 

Menschen, vor allem Fremde, die mir irgendwie nahe kamen, waren für mich lange ein riesiges Problem und sorgten immer wieder für Panikattacken, dissoziative Zustände etc.. Leute, die mich schon länger kennen, wundern sich, wie viel unbeschwerter mein Umgang mit Menschen geworden ist. Das macht so vieles einfacher! Sogar Pflege kann ich von anderen Leuten zulassen, sodass meine Mutter endlich ein bisschen entlastet wird. Für die Zukunft kann ich mir vorstellen, noch mehr mit persönlichen Assistent*innen zusammenzuarbeiten und dadurch unabhängiger und selbstständiger zu werden.

 

Die lange Isolation war also offensichtlich für mich ziemlich heilsam. Trotzdem waren die letzten Jahre für mich schrecklich und mir ging es nicht gut. Mit 25 wurde ich bettlägerig, jetzt bin ich 30 Jahre alt. Die letzten fünf Jahre fühlen sich für mich an als wäre ich wie Captain America im Eis begraben gewesen. Während draußen das Leben weiterging und Leute ihr Leben weiterlebten, war ich in meinem Bett gefangen und habe nichts von dem ganz normalen Alltagsleben miterlebt. Aber nun bin ich psychisch so stabil, dass ich unbedingt wieder am Leben teilnehmen möchte. Mein körperlicher Zustand allerdings hat weiterhin abgebaut. In den nächsten Tagen bekomme ich endlich meinen sehnsüchtig erwarteten E-Rollstuhl! Da ich ja in den letzten fünf Jahren gar nicht draußen war, werde ich ganz achtsam und in meinem eigenen Tempo die Welt da draußen erkunden. Ich bin sehr neugierig meine neue Komfortzone auszutesten und bin nicht daran interessiert meine Grenzen zu überschreiten. Wo meine Grenzen sind? Vielleicht beim Briefkasten, vielleicht beim Bäcker nebenan, der Eisdiele, in der Fußgängerzone oder vielleicht irgendwo, wo ich sie gar nicht erwarten würde. Ich freu mich darauf es herauszufinden!

 

Das ist meine ganz persönliche Geschichte mit einer schweren psychischen Erkrankung. Ich möchte deutlich sagen, dass mir das Ganze, so wie es im Endeffekt gekommen ist geholfen hat, aber ich würde das nicht auf Andere übertragen. Ein gewollter oder erzwungener Abbruch jeglicher Behandlung kann durchaus schädlich und gefährlich sein. 


P.S.

 

Seit Oktober 2021 hat mir Marnie

schon viele schöne und lustige Momente geschenkt! 

 

Das tat mir wirklich gut

und ich bin jeden Tag froh sie zu haben.


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